BT-Kolumne 20: Anstandslos

BT-Kolumne 20: Anstandslos

Erschienen am Samstag, 13.02.2021 im Bieler Tagblatt Seite 25 in der Reihe «Gedanken zum Sonntag».

Ich beginne gleich doppelt mit Lichtenberg: «Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstossen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?» und «Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken.» Ich bin von der Biologie und Evolution her ein Trockennasenaffe und ein Apostel will ich sowieso nicht sein.

Es geht in dieser Kolumne nicht um Bücher, sondern um Texte in den Sozialen Medien. Seit Beginn der Coronamassnahmen las man dort immer schon Beiträge voller Unverständnis und A gression. Auf meinen Bildschirmen haben sich jetzt aber Kommentare voller Wut, Hass, Zorn und Frust zur vermeintlichen, neuen Normalität entwickelt.

Beispielsweise bei einem Bericht darüber, dass die Kantonspolizei beim Bundesamt für Gesundheit in Bern patrouillieren muss, weil konkrete Gewaltdrohungen gemacht wurden: Ich klicke und hoffe, dass einige Kommentare solche Gewaltandrohungen verurteilen mögen. Fehlanzeige. Was ich ins Gehirn gepresst bekomme: Hass. Zorn. «Geschieht denen recht.» – «Das Volk beginnt zu erwachen.» – «Wir lassen nicht mehr alles mit uns machen.» Und Schlimmeres, das ich hier gar nicht zitieren mag. Ich muss mir dann immer wieder einreden und hoffen, dass es bloss eine laute, brüllende Minderheit ist, die sich da einen Bürgerkrieg herbeizusehnen scheint.

Dass sich Leute durch solch offene Feindseligkeit und unverhohlenen Applaus bei Gewaltandrohungen Luft verschaffen, finde ich krass. Ich hoffe, dass ich das niemals als «normal» empfinden werde. Bei der Facebook-Präsenz ganz vieler Medienhäuser sind hässliche Kommentare die Mehrheit geworden. Zorn erstickt dort fast alles andere. Das alles mag ein wenig auch an Algorithmen liegen und daran, dass viele Leute eh bloss Überschriften lesen.

Der Hass, der mir da entgegenschlägt, ist schier überwältigend. Wobei sich dieser Zorn ja gar nicht konkret auf mich selbst als Person bezieht. Und trotzdem macht er mich betroffen. Er betrifft mich ja. Was wir sprechen, schreiben und lesen: betrifft unsere Gesellschaft.

Was also tun? Sich von Facebook fernhalten? Sich an den betreffenden Orten nicht mehr aufhalten? Gegenrede führen und besonnenere Kommentare hinterlassen? Es gibt viele Massnahmen, welche dazu führen können, dass wir nicht durchdrehen ob so viel Zorn und Unbesonnenheit. Wir dürfen uns nicht anstecken lassen. Der Ton ist hart geworden. Aufgrund der härteren Zeiten. Lassen wir uns aber nicht so sehr verhärten, dass wir spröde oder apathisch werden, dass wir brechen oder zusammenbrechen.

Um auf Lichtenberg zurückzukommen: Nein, die Kommentarspalten im Facebook-Buch und anderswo sind oft kein Spiegel, sondern eine Jauchegrube.

 

Info: Valentin Abgottspon engagiert sich bei der Freidenker-Vereinigung für die Anliegen religionsfrei lebender Menschen. Er arbeitet als humanistischer Ritualbegleiter und freier Redner. Er lebt in Lyss. In dieser Rubrik schreiben abwechslungsweise Autorinnen und Autoren verschiedener Glaubensbekenntnisse. kontext@bielertagblatt.ch info@der-freie-redner.ch

 

 

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