Erschienen am Samstag, 19.12.2010 im Bieler Tagblatt Seite 29 in der Reihe «Gedanken zum Sonntag».
«Gesundheit!» Das ist der aufrichtige Wunsch, den ich für alle anlässlich der bevorstehenden Festtage und zum Jahreswechsel habe. Neben diesem Wunsch habe ich allerdings noch eine Hoffnung: dass nämlich das andere «Gesundheit!» – das beim distanzlosen Realpräsenz-Anstossen mit Gläsern in grosser und geselliger Runde – möglichst selten vorkommt. Beim aktuellen Stand der Pandemie verträgt es keine Verdoppelung der Fallzahlen. Eigentlich verträgt es nicht einmal gleich hoch bleibende Zahlen. Ich werde mich also auch über die Festtage körperlich möglichst fernhalten von anderen Menschen. Sprechen, sich sogar emotional nahekommen, kann man nämlich auch per Telekommunikation. Oder draussen. Zu viele Menschen denken aktuell: «Ach, wenn jetzt halt bloss wir hier an Weihnachten zusammensitzen, wird das schon nicht ins Gewicht fallen!»
In diesem Zusammenhang geht mir extrem gegen den Strich, dass ausgerechnet religiöse Gruppierungen auf Sonderregelungen gepocht haben. Wobei es ja nicht verwerflich ist, dass die Kirchenlobby halt tut, was die Kirchenlobby so tun soll. Schlimm finde ich aber, wie untertänig der Staat der Kirchenlobby Sonderregeln zugesteht. Ganz allgemein sollten einfach für alle dieselben Regeln gelten. Keine Privilegien für niemanden. Viele Kulturschaffende darben wirklich krass und wären eigentlich auf Publikum, Auftrittsmöglichkeiten und so weiter angewiesen. Dürfen aber nicht. Dem gegenüber dürfen religiöse Feiern mit vielen Personen stattfinden, obwohl die Kultus-Schaffenden eben nicht wirklich – zumindest finanziell – darauf angewiesen wären. Aufgrund des höheren, ja hohen Altersdurchschnittes der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Gottesdiensten ist das alles zusätzlich bedenklich. Da sind überdurchschnittlich viele Risikopersonen anwesend. Die Kirchenlobby will zudem durchsetzen, dass man gottesdienstlich ungestört-unbemaskt singen, also Aerosole verteilen, dürfe. Dazu fällt mir das passende Lied unverzüglich ein: «Näher, mein Gott zu dir!» So wird nicht bloss das angebliche Wort Gottes unter die Leute gebracht, solche Anlässe sind erwiesenermassen oft ein Super-Spreader-Event.
Ich schliesse gerne mit einem Dank an jene Religiösen, welche sich trotz Sonderregeln verantwortungs- und rücksichtsvoll verhalten und vermeiden, an noch mehr Tod und Leid unmittelbar mitschuldig zu sein. Es sind jene Religiösen, welche nicht ständig «Christenverfolgung!» und «Religionsfeindlichkeit!» schreien, wenn für alle dieselben Regeln gelten. Solche Religiöse möchte ich fast schon umarmen. Ich bleibe aber trotzdem lieber distanziert. Prost! Trotzdem.
Info: Valentin Abgottspon engagiert sich bei der Freidenker-Vereinigung für die Anliegen religionsfrei lebender Menschen. Er arbeitet als humanistischer Ritualbegleiter und freier Redner. Er lebt in Lyss. In dieser Rubrik schreiben abwechslungsweise Autorinnen und Autoren verschiedener Glaubensbekenntnisse. kontext@bielertagblatt.ch info@der-freie-redner.ch